Wissenschaftlichkeit und Evidenz

Evidenzbasierte Medizin

Evidenzbasierte Medizin (EbM, von englisch evidence-based medicine „auf Beweismaterial gestützte Heilkunde“) ist eine jüngere Entwicklungsrichtung in der Medizin, die ausdrücklich die Forderung erhebt, dass bei einer medizinischen Behandlung patientenorientierte Entscheidungen nach Möglichkeit auf der Grundlage von empirisch nachgewiesener Wirksamkeit getroffen werden sollen.
Die Bezeichnung Evidenz wird in diesem Zusammenhang auf das Begriffsfeld von evidence im Englischen bezogen und so als "Nachweis" oder "Beleg" verstanden, was nicht mit der Bedeutung von "Evidenz" im Deutschen übereinstimmt.

 

 

Definition und Anwendung [Bearbeiten]

Definiert wird evidenzbasierte Medizin (EbM oder EBM) ursprünglich als der bewusste, ausdrückliche und wohlüberlegte Gebrauch der jeweils besten Informationen für Entscheidungen in der Versorgung eines individuellen Patienten [1]. EbM beruht demnach auf dem jeweiligen aktuellen Stand der klinischen Medizin auf der Grundlage klinischer Studien und medizinischen Veröffentlichungen, die einen Sachverhalt erhärten oder widerlegen – die sogenannte externe Evidenz.

In der klinischen Praxis der EbM bedeutet dies die Integration individueller klinischer Expertise mit der besten, verfügbaren, externen Evidenz aus systematischer Forschung; sie schließt auch diePatientenpräferenz mit ein.

EbM kann auch den Verzicht auf Therapie beinhalten, d. h. zu wissen, wann keine Therapie (anzubieten / vorzuschlagen) besser ist für den Patienten als das Anbieten / Vorschlagen einer bestimmten Therapie. [2].

Ein bekanntes Beispiel ist Prostatakrebs bei alten Männern: je nach ihrem Alter, ihrer Lebenserwartung und dem Entwicklungsstadium des Prostatakrebses ist oft das Nicht-Therapieren die beste Entscheidung.

Auf dieser evidenzbasierten individuellen Entscheidung für den einzelnen Patienten (engl. Evidence-based individual decision, EBID) aufbauend, wird der Begriff EbM auch in der sogenannten Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung (engl. Evidence-Based Health Care - EbHC) verwendet. Hierbei werden die Prinzipien der EbM auf organisatorische und institutionelle Ebene übertragen, d.h. eine Behandlungsempfehlung wird nicht für einzelne Kranke, sondern für eine Gruppe von Kranken oder für eine ganze Bevölkerung ermittelt; aus den Ergebnissen der Forschung werdenBehandlungsempfehlungen-richtlinien oder Regulierungen abgeleitet. EbHC kann in allen Bereichen der Gesundheitsversorgung angewendet werden; auf ihren Ergebnissen können auch Entscheidungen zur Steuerung des Gesundheitssystems basieren [2][3].

Methode [Bearbeiten]

Evidenzbasierte Medizin fordert vom Arzt nicht nur klinische Expertise (das heißt Fachwissen am Krankenbett), sondern auch das Wissen, wie er sich die Ergebnisse aktueller wissenschaftlicher Forschung aneignet, wie er sie interpretiert und anwendet. Fachwissen ist ebenso erforderlich in der Gesprächsführung mit dem Patienten, vor allem in der Besprechung möglicher Nutzen und Risiken der verschiedenen Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten. Angestrebt werden sollte eine informierte Einwilligung.

Die Umsetzung der EbM in die Praxis bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung in einem mehrstufigen Prozess. Dabei wird aus dem klinischen Fall eine relevante, beantwortbare Frage abgeleitet. Anhand dieser Frage erfolgt die Recherche in der medizinischen Literatur. Die recherchierte Literatur muss nun kritisch bezüglich ihrer Validität und Brauchbarkeit bewertet werden (Evidenz). Es folgt die Anwendung der ausgewählten und bewerteten Evidenz beim individuellen Fall.

Alle diese Schritte bedürfen der Übung, insbesondere die Literaturrecherche und –bewertung. Da sich jedoch das gesamte medizinische Wissen derzeit alle fünf Jahre verdoppelt[4], ist auch der geübte Arzt zunehmend überfordert, das für ihn Bedeutende in der Fülle des be- und entstehenden Wissens zu bestimmen. Abhilfe versuchen hier EbM-orientierte Organisationen, mittels systematischer Evidenzrecherche und –bewertung zu relevanten, oft fachspezifischen Fragen Lösungen zu finden, um so die Zugänglichkeit der Ergebnisse aus der klinischen Forschung in den praktischen Alltag transparenter und einfacher zu machen.

Statt also wie im klassischen Ansatz der EbM Rückgriff auf die Originalartikel (die Primärliteratur) zu nehmen, werden hier vom Arzt Sekundärliteratur und systematische Übersichtsarbeiten herangezogen, bei der die Wertung nach EbM Kriterien bereits getroffen wurde. Ziel ist hier die Synthese aller relevanten Artikel aus der Primärliteratur, damit die Suche für den praktischen Alltag möglichst zeitsparend und spezifisch erfolgen kann. Diese Übersichtsarbeiten bilden auch die Basis für sogenannte Health Technology Assessments (HTA, zu deutsch:Technikfolgenabschätzung in der Medizin) und für evidenzbasierte Leitlinien. Eine der bedeutendsten Organisationen zur Erstellung solcher systematischen Übersichtsarbeiten ist die Cochrane Collaboration.

EbM stellt somit selbst eine junge, sich entwickelnde Wissenschaft dar mit dem Ziel, die Qualität der veröffentlichten medizinischen Daten zu bewerten und damit auch zu verbessern. Die EbM beschäftigt sich nicht selbst mit der Durchführung von klinischen Studien, sondern mit der systematischen Nutzung ihrer Ergebnisse. Um von der Evidenz zur Empfehlung zu gelangen, wurden EbM-Kriterien folgend unterschiedliche Klassifikationssysteme erarbeitet. Dabei wird die externe Evidenz nach Validitätskriterien hierarchisch geordnet, die neben der Qualität der Einzelstudien die Gesamtheit der Evidenz zu einer Frage umfassen. Im folgenden Beispiel für ein solches Klassifikationssystem vom Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) gelten nachfolgende Level im Sinne der EbM:

  • Level 1: Es gibt ausreichende Nachweise für die Wirksamkeit aus systematischen Überblicksarbeiten über zahlreiche randomisiert-kontrollierte Studien.
  • Level 2: Es gibt Nachweise für die Wirksamkeit aus zumindest einer randomisierten, kontrollierten Studie.
  • Level 3: Es gibt Nachweise für die Wirksamkeit aus methodisch gut konzipierten Studien, ohne randomisierte Gruppenzuweisung.
  • Level 4a: Es gibt Nachweis für die Wirksamkeit aus klinischen Berichten.
  • Level 4b: Stellt die Meinung respektierter Experten dar, basierend auf klinischen Erfahrungswerten bzw. Berichten von Experten-Komitees.

Andere Klassifikationssysteme erweiterten die Evidenzhierarchie auf die Erfordernisse unterschiedlicher Fragestellungen, die Berücksichtigung von Schwächen in der Ausführung einzelner Studie und Inkonsistenzen zwischen mehreren Studien, beispielsweise das Klassifikationssystem des Centre for Evidence-based Medicine in Oxford [5]. Zur Beurteilung der Qualität von klinischen Studien kann auch die sogenannte Jadad-Skala verwendet werden. Es wird damit nur die Qualität der Durchführung einer Studie beurteilt und nicht die Qualität der Ergebnisse, allerdings lassen sich aus der Studienqualität Rückschlüsse auf die Qualität der Ergebnisse ziehen. [6]

Die Einteilung in Klassifikationssystemen ist wichtig, um den Nutzen und die Risiken von Behandlungen angemessen beurteilen zu können (inklusive Nutzen und Risiken der Nicht-Behandlung).[7]Neben der Beurteilung und Einteilung von abgeschlossenen klinischen Studien können EbM-Prinzipien auch im Voraus, d. h. während des Entwurfs von klinischen Studien, hilfreich sein. Gut geplante und hochwertig durchgeführte, randomisierte kontrollierte, doppelblinde klinische Studien, die genügend hohe Patientenzahlen aufweisen, erfüllen die Voraussetzungen, um später nach EbM-Kriterien vorteilhaft eingeteilt zu werden. Eine solche Planung beugt einer Unwirtschaftlichkeit von Geld und Ressourcen vor.[8]

Um die unterschiedlichen Klassifikationssysteme zu vereinheitlichen und zusätzliche Aspekte wie Relevanz und Durchführbarkeit mit zu berücksichtigen, etabliert eine internationale Arbeitsgruppe, die „GRADE Working Group“, seit dem Jahr 2000 ein neues System. Das GRADE-System (Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation) zur Bewertung der Evidenz und Formulierung von Empfehlungen international an Bedeutung gewonnen und wird von der WHO, der Cochrane Collaboration und vielen Leitlinienorganisationen unterstützt [9].

Begriffe der EbM [Bearbeiten]

Evidenz-basierte Medizin EbM [Bearbeiten]

Der Begriff wurde Anfang der 1990er Jahre von Gordon Guyatt aus der Gruppe um David Sackett an der McMaster University, Hamilton, Kanada, im Department of Clinical Epidemiology and Biostatistics geprägt.[10] Im deutschen Sprachraum wurde über das Konzept erstmals 1995 publiziert [11], wobei die Verfasser bei der Übertragung ins Deutsche einem falschen Freund erlagen: Während evidence im Englischen je nach Kontext die Bedeutungen ‚Beweis‘, ‚Beleg‘, ‚Hinweis‘ oder ‚Zeugenaussage‘ hat, ist die Bedeutung von Evidenz im Deutschen Offensichtlichkeit (die keines Beweises bedarf) (englisch: obviousness). Deshalb wurde vorgeschlagen, im Deutschen den Begriff nachweisorientierte Medizin zu verwenden.[12] Im Jahre 2000 wurde der Begriff „evidenzbasierte Leitlinien“ in das deutsche Sozialgesetzbuch (§§ 137e, 137f, 137g, 266 SGB V, Strukturierte Behandlungsprogramme bei chronischen Krankheiten) eingeführt.[13][14]

Evidenzklasse [Bearbeiten]

Mit Hilfe von Evidenzklassen[15], (synonym Evidenzebenen), erfasst man die wissenschaftliche Aussagefähigkeit klinischer Studien. Dabei unterscheidet man nach den Empfehlungen des AHRQ (Agency for Healthcare Research and Quality) die Evidenzklassen I bis IV. Studien der Klasse Ia haben die höchste Evidenz, Studien der Klasse IV die geringste. Je höher die Evidenzklasse, desto besser ist die wissenschaftliche Begründbarkeit für eine Therapieempfehlung.[16]

  • Klasse Ia: Evidenz durch Meta-Analysen von mehreren randomisierten, kontrollierten Studien.
  • Klasse Ib: Evidenz aufgrund von mindestens einer randomisierten, kontrollierten Studie.
  • Klasse IIa: Evidenz aufgrund von mindestens einer gut angelegten, jedoch nicht randomisierten und kontrollierten Studie.
  • Klasse IIb: Evidenz aufgrund von mindestens einer gut angelegten quasi-experimentellen Studie.
  • Klasse III: Evidenz aufgrund gut angelegter, nicht-experimenteller deskriptiver Studien wie etwa Vergleichsstudien, Korrelationsstudien oder Fall-Kontroll-Studien.
  • Klasse IV: Evidenz aufgrund von Berichten der Experten-Ausschüsse oder Expertenmeinungen bzw. klinischer Erfahrung anerkannter Autoritäten.

Empfehlungsgrad [Bearbeiten]

Auf der Basis der Evidenzklassen (synonym: Evidenzebene) werden Behandlungsempfehlungen gegeben (synonym: Empfehlungsgrad, Empfehlungsstärke). Diese werden unterteilt nach:

  • Grad A: „Soll“-Empfehlung: zumindest eine randomisierte kontrollierte Studie von insgesamt guter Qualität und Konsistenz, die sich direkt auf die jeweilige Empfehlung bezieht und nicht extrapoliert wurde (Evidenzebenen Ia und Ib)
  • Grad B: „Sollte“-Empfehlung: Gut durchgeführte klinische Studien, aber keine randomisierten klinischen Studien, mit direktem Bezug zur Empfehlung (Evidenzebenen II oder III) oder Extrapolation von Evidenzebene I, falls der Bezug zur spezifi- schen Fragestellung fehlt
  • Grad C: „Kann“-Empfehlung: Berichte von Expertenkreisen oder Expertenmeinung und/oder klinische Erfahrung anerkannter Autoritäten (Evidenzkategorie IV) oder Extrapolation von Evidenzebene IIa, IIb oder III; diese Einstufung zeigt an, dass direkt anwendbare klinische Studien von guter Qualität nicht vorhanden oder nicht verfügbar waren
  • Good Clinical Practice Wenn es für eine Behandlungsmethode keine experimentellen wissenschaftlichen Studien gibt, diese nicht möglich sind oder nicht angestrebt werden, das Behandlungsverfahren aber dennoch allgemein üblich ist und innerhalb der Konsensusgruppe eine Übereinkunft über das Verfahren erzielt werden konnte, so erhält diese Methode die Empfehlungsstärke Good Clinical Practice GCP (synonym: KKP = Klinischer Konsensuspunkt).

Leitlinie [Bearbeiten]

Nach dem System der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) werden Behandlungs-Leitlinien in drei Entwicklungsstufen von S1 bis S3 entwickelt und klassifiziert, wobei S3 die höchste Qualitätsstufe ist.

  • S1: von einer Expertengruppe im informellen Konsens erarbeitet und bisher ohne geschlossen dokumentierte Beleglage zur möglichen Evidenz
  • S2: eine formale Konsensfindung oder eine formale „Evidenz“-Recherche hat stattgefunden und liegt dokumentiert offen zugänglich vor
  • S3: Leitlinie mit zusätzlichen/allen Elementen einer systematischen Entwicklung (Logik-, Entscheidungs- und „Outcome“-Analyse, Bewertung der klinischen Relevanz wissenschaftlicher Studien und regelmäßige Überprüfung) mit Verweisen auf eine detaillierte und geschlossen dokumentierte Beleglage.

Geschichte [Bearbeiten]

Die Idee der evidenzbasierten Medizin lässt sich auf das in der zweiten Hälfte des im 18. Jahrhunderts von britischen Ärzten entwickelte Konzept der medical arithmetic zurückführen.[17] Erstmalig findet sich die Bezeichnung in dem 1793 publizierten Artikel An Attempt to Improve the Evidence of Medicine des schottischen Arztes George Fordyce.[18]

In Großbritannien wurde eine der ersten kontrollierten klinischen Studien durchgeführt. Schon 1753 veröffentlichte James Lind die Ergebnisse seines Versuchs, Skorbut mit Orangen und Zitronen zu behandeln. Im deutschsprachigen Bereich kommt dem in Wien tätigen, ungarischen Arzt Ignaz Semmelweis (1818–1865) die Erstautorenschaft für die Einführung der „systematischen klinischen Beobachtung“ in die medizinische Forschung zu (1848).

Die Gründung der modernen EbM geht auf die Arbeitsgruppe um David Sackett im Department of Clinical Epidemiology and Biostatistics an der McMaster University in Hamilton, Kanada, zurück, wo David Sackett beginnend im Jahr 1968 als Gründungsdirektor der Abteilung lehrte. Das 1972 erschienene Buch Effectiveness and Efficiency: Random Reflections on Health Services des britischen Epidemiologen Professor Archie Cochrane führten zu einer zunehmenden Akzeptanz klinischer Epidemiologie und kontrollierter Studien. Cochranes Bemühungen wurden dadurch gewürdigt, dass ein internationales Netzwerk zur Wirksamkeitsbewertung in der Medizin – die Cochrane Collaboration – nach ihm benannt wurde.

Lehre [Bearbeiten]

Die Verbreitung der EbM ist im deutschsprachigen Bereich maßgeblich durch die Institutionalisierung des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (DNEbM e. V.) befördert worden. Ziele dieser Fachgesellschaft sind die Weiterentwicklung und Verbreitung von Theorie und Praxis der Evidenzbasierten Medizin.

EbM wird auch in vielen Universitäten gelehrt. Die Umsetzung dieser Lehre von der Theorie in die Praxis ist jedoch noch umstritten. So ist inzwischen bekannt, dass praktische Kurse (Vorführen von EbM-Recherchen und das praktische Anwenden von EbM bei individuellen Patienten) zu besseren Lehrergebnissen führen würden.[19]

Neben Lehrbüchern gibt es u.a. eine frei zugängliche englischsprachige Serie der Kanadischen Medizinischen Gesellschaft.[20][21][22][23][24][25]

Kritik [Bearbeiten]

Argumente der Kritiker sind folgende:

  1. Je mehr Daten in großen Studien zusammengezogen werden, umso schwieriger würde es, den Durchschnittspatienten der Studie mit einem speziellen Patienten zu vergleichen. So seien Studien mit einer großen Anzahl nicht ohne weiteres auf einen speziellen Einzelfall anwendbar. „Große Zahlen liefern ein statistisch gesehen genaues Ergebnis, von dem man nicht weiß, auf wen es zutrifft. Kleine Zahlen liefern ein statistisch gesehen unbrauchbares Ergebnis, von dem man aber besser weiß, auf wen es zutrifft. Schwer zu entscheiden, welche dieser Arten von Unwissen die nutzlosere ist.“ (Beck-Bornholdt, Dubben: 2003)
  2. Kausalitäten können lange ungeklärt bleiben. Die evidenzbasierte Medizin stellt die Bedeutung randomisiert kontrollierter Studien (RCTs) heraus, die Schlüsse auf Kausalzusammenhänge erlauben[26]. In Beobachtungsstudien und anderen Forschungsdesigns hingegen - teilweise der einzigen Weg, um Sachverhalte überhaupt oder mit ausreichend externer Validität zu untersuchen - kann man oft nur von Korrelationen sprechen, manchmal von gesicherten Zusammenhängen.
  3. Weiter werden Trugschlüsse bei den Endpunkten (Surrogat-Marker) von medizinischen Studien diskutiert.
  4. Erfahrung, individuelle Entscheidungen und Emotionen würden bei der EbM nicht oder zu wenig anerkannt (stupide „Kochbuchmedizin“).
  5. Die Forderung, den Wert einer medizinischen Behandlung für den einzelnen Betroffenen zu beurteilen, führt zum Begriff value based medicine. Dieser Wert im Kontext zum einzelnen Menschen betrachtet (biopsychosoziales Modell) wird als human based medicine bezeichnet. EbM könne bestenfalls ein erster Schritt auf dem Weg zur HbM sein.
  6. Es gibt keinen Beweis dafür, dass die Behandlung nach EbM-Maßstäben für den einzelnen Patienten besser ist als die individuelle Therapieentscheidung durch den behandelnden Arzt.
  7. Metaanalysen, die von Pharmafirmen gesponsert werden, sind oft falsch-positiv bewertet. [27]
  8. Der Publikationsbias trägt dazu bei, dass Studien, bei denen negative Effekte erzielt werden, seltener veröffentlicht werden. Deshalb erzielen auch Metaanalysen, die nicht von Pharmafirmen gesponsert werden oft falsch-positive Bewertungen[28].
  9. Kritisiert wird oft nicht so sehr die evidenzbasierte Methodik an sich als ihre ideologische Überhöhung. [29] [30] "„Evidenzbasierte Medizin“, wenn sie richtig verstanden wird, beschreibt also etwas Selbstverständliches, nämlich die Berücksichtigung wissenschaftlicher Grundsätze in Diagnostik und Therapie. Der Begriff wird gegenwärtig nicht so gebraucht, sondern ihm wird eine unbegründete Sonderstellung gegeben." (Wichert, 2005, S. 1569)
  10. Insbesondere im Bereich der Psychotherapie werden aufgrund von Forschungsmoden bestimmte Therapieverfahren und -methoden intensiver beforscht, andere jedoch vom professionellen universitären Forschungsbetrieb eher ausgeschlossen. Es kann bei Kostenträgern der Eindruck entstehen, dass die von der Forschung bevorzugten Therapiemethoden ernstzunehmender seien, als die, zu denen keine, wenige oder lediglich schlechte Studien vorliegen. Das Fehlen von Forschungsinteresse nicht zuletzt aufgrund fehlender finanzieller Forschungsressourcen in Bezug auf Methoden, die nicht im gegenwärtigen Mainstream liegen, ist jedoch nicht für deren Unwirksamkeit beweiskräftig. Trotzdem werden von Kostenträgern des Gesundheitssystems mit der Forderung nach evidenzbasierten, d.h. viel beforschten Methoden, die wenig beforschten Verfahren aus dem System ausgeschlossen und weiter verdrängt. Damit kann EbM ungewollt für die weitere Verarmung und Technokratisierung der Psychotherapielandschaft in Deutschland missbraucht werden, indem Kostenträger sich in die Lage versetzen, neben der ambulanten Psychotherapie auch mehr und mehr psychosomatische Kliniken über das einzuführende OPS-Abrechnungssystem inhaltlich einzuschränken und "gleichzuschalten".

An ihre Grenzen stößt die EbM, wenn zu wenige Nachweise und Studien vorliegen. So ist beispielsweise in der Pädiatrie EbM nicht so weit fortgeschritten wie z. B. in der Onkologie undKardiologie. Der Hauptgrund dafür ist, dass große kontrollierte klinische Studien in der Pädiatrie nicht sehr häufig durchgeführt werden bzw. an sich schwer durchzuführen sind. Dadurch ist nicht so viel "evidence" vorhanden wie es wünschenswert wäre, stattdessen muss man sich notgedrungen auf die "Evidenz" verlassen (also das, was vor Augen ist).[31][32] Diese Aussage trifft aber nicht für alle Bereiche der Pädiatrie zu, z. B. nicht für die pädiatrische Hämato-Onkologie.[33]

Hinsichtlich seiner Entscheidung ist der einzelne Patient von den Informationen abhängig, die er zur Verfügung hat. Insbesondere bei akuten Behandlungsfällen ist jedoch häufig nicht genug Zeit, um diese Informationen zu übermitteln, so dass eine starke Abhängigkeit des Patienten von dem behandelnden Arzt entsteht. Für den Patienten steht als Ausweichmöglichkeit oft nur der Wechsel des Arztes offen, wenn sonst keine Wahl unter verschiedenen Therapien angeboten wird.

Eine Gratwanderung kann auch eine zu enge Auslegung von EbM darstellen. So gibt es Sachverhalte, die seit langem und vollkommen geklärt sind, für die aber im Sinne der EbM keine ausreichenden Nachweise vorliegen. Als Beispiel zur Illustration mag dienen, dass die sogenannte Vipeholm-Studie[34] von 1954 die erste und letzte prospektive Untersuchung zur Verursachung der Karies durch Zucker war. Auch z. B. der Durchbruch der Ciclosporin-Behandlung in der Immunsuppression nach Organtransplantation erfolgte so rapide, dass es nur relativ wenige Untersuchungen hoher Beweiskraft zum Vergleich mit dem vorher etablierten Schema (Cortison & Azathioprin) gibt. Bei einer hohen Eindeutigkeit von Ergebnissen (also hoher "Evidenz" im Sinne der deutschen Wortbedeutung) verbieten sich weitere prospektive randomisierte Vergleichsstudien schon aus ethischen Gründen; die Tatsache, dass es zu einer Frage wenig belastbare"evidence" gibt, darf daher nicht so interpretiert werden, dass diese negativ zu beantworten sei. Angeführt wird in diesem Zusammenhang auch, dass eine gute Beweisführung in vielen Bereichen der Medizin nicht durchführbar oder zu umständlich sei. Fast alle ärztlichen Handlungen, die komplett unstrittig sind (also dt. "evident"), seien nicht nachweisbasiert (also nicht "evidence based") und würden es nie sein. Fehlen von bewiesenem Nutzen und Fehlen von Nutzen seien nicht das Gleiche.

Die Kehrseite einer offeneren Auslegung von EbM kann aber wiederum zur nicht konsequenten Anwendung führen. So kommt es auch vor, dass EbM in Bereichen der Medizin bzw. in Ländern, wo sie eigentlich weitgehend akzeptiert ist, in der Praxis nicht konsequent durchgeführt wird.[35]

Es gibt organisierten Widerstand gegen die EbM und ihre Auswirkungen innerhalb der Ärzteschaft. [36].